Karl-Heinz Kraemer
Department of Political Science of South Asia, South Asia Institute, University of Heidelberg

Thomas Döhne, 2000. Zwischen Bildungsgewinn und Erfahrungsverlust: Schulerziehung in einem Bergdistrikt Nepals. Frankfurt: Brandes & Apsel. 322 S. ISBN 3-86099-295-3.

Review in: Asien, 79:122-124 (April 2001)

Diese Studie von Thomas Döhne (Dissertation Universität Frankfurt/M. 1999) untersucht Probleme ländlicher Schulerziehung im Rahmen des ostnepalischen Gebirgsdistrikts Okhaldhunga. Nach einer Einführung in Forschungsmethode und landesspezifische Hintergründe beschreibt der Autor die historische Entwicklung und Struktur des öffentlichen nepalischen Schulwesens. Einer kurzen Beschreibung der Gegebenheiten des Untersuchungsgebiets schließen sich ausführliche Untersuchungen der drei Highschools von Ohaldhunga Bazar, Rampur und Umbu an. Der Autor setzt dabei Fragen von Ethnizität und Bildungsproblematik in einen sachlichen Zusammenhang, ein Aspekt, der bisher in der gesellschaftlichen Forschung zu Nepal recht wenig Beachtung gefunden hat.

Die Bevölkerungsstruktur des Okhaldhunga-Distrikts kann als beispielhaft für den gesamten Staat Nepal angesehen werden, insbesondere für seine ländlichen Regionen. Die im November 1990 eingeführte neue Verfassung erkennt die Multiethnizität als ein wesentliches Merkmal des nepalischen Staates an. Regierung, Verwaltung und politische Parteien sind aufgefordert, die konstitutionell garantierte Gleichheit aller Bürger unabhängig von Religion, Rasse, Geschlecht, Kaste, Stamm oder ideologischer Überzeugung (Artikel 11 der Verfassung) zu verwirklichen. Zahlreiche Statistiken und ethnologische Studien belegen, daß die tatsächlichen Gegebenheiten auch zehn Jahre nach der Einführung der neuen Verfassung nur wenig diesen holden Idealen angepaßt wurden. Ethnische Organisationen, welche die Verwirklichung von Presse-, Meinungs- und Organisationsfreiheit nutzen, haben in den 1990er Jahren systematisch die diesbezüglichen Mißstände aufgewiesen. Doch die Regierung und die für den legislativen Prozeß verantwortlichen politischen Parteien haben bisher keine ernsthaften Veränderungen eingeleitet.

Eine Folge des Engagements ethnischer Organisation ist jedoch die deutliche Bewußtseinszunahme der Angehörigen sowohl ethnischer Gruppen als auch sogenannter unberührbarer Hindukasten (dalits). Ganz offensichtlich nimmt dieses Bewußtsein mit dem Grad der Bildung zu. Doch Bildung erfüllt eine Doppelfunktion im modernen Nepal. Sie ist nicht nur der Vermittler ethnischen Bewußtseins, sondern sie wird auch von der traditionellen Staatselite, die sich aus den hohen Hindukasten der Brahmanen und Chhetri sowie einer Oberschicht der Newar rekrutiert, genutzt, um den status quo der eigenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dominanz zu bewahren.

Thomas Döhne trägt mit seinen Vor-Ort-Beschreibungen zu einem gründlichen Verständnis dieses Widerspruchs bei. Sichtweisen und Erfahrungen beteiligter Akteure und Betroffener werden als zentrale Bezugspunkte genutzt, um zu qualitativen Erkenntnissen und Aussagen über das Erziehungsgeschehen im ländlichen Raum Nepals zu gelangen. Die zahlreichen Fallbeispiele der drei Highschools und die Portraits von Schulabgängern dieser Schulen helfen, die aktuellen Probleme ländlicher Schulerziehung darzustellen und zu analysieren.

Es wird belegt, daß die Dominanz der traditionellen Staatselite in der Gründungsgeschichte aller drei Schulen ihre Spuren hinterlassen hat und daß sie bis heute im Schulalltag präsent ist. Dabei zeigt sich, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen – die tibeto-mongolischen Ethnien und in noch stärkerem Maße die nach wie vor als unberührbar geltenden hinduistischen Berufskasten – hinsichtlich ihrer Teilnahme und Erfolgsaussichten im bestehenden nepalischen Schulsystem benachteiligt sind (S. 279).

Die sozio-kulturelle Herkunft der Schüler entscheidet auch darüber, ob das in der Schule vermittelte Wissen sinnvoll in den sonstigen Lebenszusammenhang integriert werden kann. Darüber hinaus weist Döhne sozio-ökonomische und geschlechtsrollen-spezifische Ungleichheiten nach. Ersterer Aspekt ist hinsichtlich der Berufskasten besonders ausgeprägt und wird durch die soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung dieser Kasten noch verstärkt. Die wirtschaftliche Not zwingt zur Suche nach Alternativen; oft brechen im Falle schulischen Mißerfolgs für die betroffenen Schüler Welten zusammen. Die starke Benachteiligung der Mädchen, ein in der gesamten nepalischen Gesellschaft verbreitetes Phänomen, spiegelt sich auch in den öffentlichen Bildungsbereichen wider. Sie ist vor allem bei den Kastenhindus anzutreffen, wo die untergeordnete Stellung der Frau ideologisch-religiös begründet wird und fest im Denken verankert ist. Den relativ häufigeren Schulbesuch der Mädchen aus den sogenannten hohen Hindukasten führt Thomas Döhne weniger auf eine Aufhebung der Geschlechtsrollen-Disparität zurück als vielmehr auf dadurch verbesserte Heiratschancen und eine Statusaufwertung des zukünftigen Mannes (S. 281). Diese geschlechtsspezifische Chancenungleichheit zeigt sich auch darin, daß die Eltern Mädchen im Gegensatz zu Jungen fast nie die Gelegenheit zur Wiederholung einer nicht bestandenen SLC-Prüfung (Abschlußprüfung nach dem 10. Schuljahr) einräumen.

Hochkastigkeit und schulische Erfolgsaussichten stehen offensichtlich in enger Beziehung zueinander; die sozialen Normen und Werte an den Schulen sind ganz auf die hohen Hindukasten zugeschnitten. Die meist hochkastigen Lehrer interpretieren dieses Phänomen jedoch in ethnozentrischer Weise mit der höheren Intelligenz der Brahmanen- und Chhetri-Kinder. Verstärkt wird dieses Bildungsgefälle ferner durch die ausschließliche Verwendung von Nepali, der Muttersprache der Hindukasten, als allgemeine Unterrichtssprache.

Dieses interne Bildungsgefälle entlang der Markierungslinien von Geschlecht und Kaste/Ethnizität hat Döhne an allen drei untersuchten Schulen festgestellt. Darüber hinaus sind aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen deutlich geworden, die in den jeweils dort vorherrschenden sozio-kulturellen Milieus begründet sind.

Die Situation der Schulen im ländlichen Raum unterscheidet sich in mancher Hinsicht deutlich von der urbaner Schulen. So kann schon der Ausfall eines einzigen Fachlehrers die ordnungsgemäße Erfüllung des Lehrauftrags in Frage stellen. Ferner hat die Einbindung der Schüler in familiäre Arbeitsprozesse eine sehr unregelmäßige Unterrichtsteilnahme zur Folge. Auch die Entfernung der Schule vom Wohnort beeinflußt die Chancen auf einen schulischen Erfolg.

Ein ganz besonderes Problem aber sind die Diskrepanzen zwischen den schulischen Lerninhalten und den praktischen Bedürfnissen im ländlichen Raum. Durch kulturelle Überlieferung und lokale Erfahrung erworbenes Wissen allein reicht heute nicht mehr aus, um im ländlichen Raum zu überleben, wo zunehmend spürbare Veränderungsprozesse die lokalen und historisch gewachsene Sozialstrukturen hinwegspülen.

Thomas Döhne sieht die ländliche Schulerziehung in einem Dilemma. Sie soll zukunftsorientiert sein und auf Veränderungsprozesse vorbereiten; letztere vollziehen sich jedoch so rasch, daß alle Beteiligten überfordert sind. Die Schulerziehung ist ausschließlich auf das Bestehen des SLC-Examens ausgerichtet und "an einem linearen Denken orientiert, dessen Kennzeichen individueller Wettbewerb, Konkurrenz und Auslese, Erziehung zu Pünktlichkeit und die Aneignung registerartig aufbereiteten Wissens ist. Eine solche Ausrichtung beansprucht Zeit, Energie, Geld und andere Ressourcen, gibt jedoch nur wenig an die lokale Ökonomie und die dörfliche Gemeinschaft zurück" (S. 299-300). Da sie das in der Schule erworbene Wissen im dörflichen Rahmen nicht anwenden können, bleibt den Jugendlichen nur eine Abkehr vom Dorf und die Suche nach einer bezahlten Anstellung außerhalb.

Die Untersuchung von Thomas Döhne besticht in ihren tiefgehenden Bewertung der Situation an den drei Schulen des Okhaldhunga-Distrikts. Eine langjährige Projektarbeit im Distrikt und spätere wiederholte Besuche ermöglichten eine vergleichende Analyse über einen längeren Zeitraum. Die fundierten Nepali-Kenntnisse des Autors erlaubten direkte Kontakte zu den zahlreichen Interviewpartnern. Besonders lobenswert möchte ich auch die Einbindung vieler nepalischer Begriffe hervorheben, wobei die uneinheitliche Verwendung von gesprochenem und Schrift-Nepali kaum einen Abbruch tut. Fazit: Thomas Döhne ist es mit seiner Dissertation gelungen, die besonderen Zusammenhänge von Bildungswesen, Kaste/Ethnizität und Zukunftschancen in Nepal zu veranschaulichen. Darüber hinaus vermittelt er wertvolle Einblicke in grundsätzliche Probleme des ländlichen nepalischen Schulwesens.

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