Karl-Heinz Kraemer
Department of Political Science of South Asia, South Asia Institute, University of Heidelberg

Nationale Identität und ethnische Integration im Nepal

(Referat zum Nepaltag der Deutsch-Nepalischen Gesellschaft, Bonn, 28.05.1994)

In: Nepal Information 74:107-111 (1994).

Die Vielfalt der Zusammensetzung der nepalischen Bevölkerungsgruppen und ihre Zuwanderungsgeschichte lassen erahnen, vor welchen Problemen die Gorkhali standen, als sie sich vor rund 200 Jahren anschickten, die militärisch eroberten Gebiete in Form eines neuen Einheitsstaates zu einigen. Prithvinarayan Shahs durchaus negativ gemeinter Vergleich mit einem "Garten aller Völkerschaften" kam der Wirklichkeit damals ganz offensichtlich wesentlich näher als sein Wunschtraum von der Schaffung eines Hindustaates.

Aufgrund der starken politischen Fragmentierung war es im vor-gorkhalischen Nepal zur Bildung eines stark regionalisierten Gewohnheitsrechts gekommen. In jedem der zahlreichen Kleinstaaten hatten sich die Gesetze entsprechend dem Charakter der dort ansässigen Bevölkerung entwickelt. Die einzelnen Kleinstaaten waren geographisch und wirtschaftlich abgeschlossene, autarke Agrargesellschaften, deren Bevölkerung sich aus jeweils unterschiedlichen ethnischen Gruppen mit eigenen Sozialstrukturen entsprechend ihren religiösen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Bedürfnissen zusammensetzte.

Unter den Kleinstaaten des nepalischen Pahar gab es auch eine ganze Reihe, in denen sich zugewanderte Rajputen schon zuvor der Staatsgewalt bemächtigt hatten. Sie hatten in ihren Kleinstaaten im Laufe der Zeit jenes Rechtsverständnis durchgesetzt, welches ihnen aus ihrer indischen Heimat vertraut war, nämlich das Hindurecht. Einer jener Staaten, für die dies zutraf, war das Königreich von Gorkha, dessen Herrscher sich nun im frühen 19. Jahrhundert anschickten, die zuvor eroberten Gebiete auch gesetzlich zu einen, indem sie ihre Hindugesetze auf den neuen Gesamtstaat übertrugen.

Die Einführung des Hinduideals entsprach der Natur des Gorkhalistaates. Gorkha selbst war ein Hindustaat mit einem Hindumonarchen an der Spitze. Die Quelle der Macht des Königs und seiner Vorrechte leitete sich von dem Ideal des dharma ab, denn entsprechend dem Hindurecht ist der dharma die Grundlage von Gesellschaft und Autorität. Der Staat mußte folglich in Übereinstimmung mit dem dharma-Ideal funktionieren oder zumindest danach streben. Von daher ergab sich die für die Gorkhali selbstverständliche Notwendigkeit, dieses Ideal nach ihren militärischen Eroberungen auch in jenen Gebieten einzuführen, in denen es bis dahin unbekannt gewesen war, und in Gebieten, in denen es bereits bekannt war, auf eine korrektere Anwendung desselben zu drängen.

Daneben bedingte aber die geopolitische Lage Nepals, daß der König und seine Verwaltung den lokalen Bräuchen und Traditionen größere Beachtung schenkten, sie akzeptierten und teilweise sogar Bräuche sanktionierten, welche im Widerspruch zu den religiös-sozialen Idealen des Staates standen. Frieden hatte Vorrang vor Konformität. Schließlich trug aber der soziale Druck auf eine Übereinstimmung mit dem Hinduideal zur besonderen Begünstigung der höheren oder reineren Kasten bei.

In den Jahren nach dem britisch-gorkhalischen Krieg (1814-16) fand eine Art Dialog zwischen der zentralen Macht und den diversen Bevölkerungsgruppen in den eroberten Gebieten statt. Eine Folge dieses Dialogs war die Festlegung des gesetzlichen Rechts unterschiedlicher Klassen von Menschen, bestimmten traditionellen Praktiken nachzugehen, ungeachtet dessen, was ihre Nachbarn über diese Praktiken denken mochten. Dahinter stand stets das Bestreben der Zentralregierung, die lokale Verwaltung zu kontrollieren. Die Dauerhaftigkeit der geschaffenen gesetzlichen Struktur beruhte auf der Korrespondenz mit der Zentralregierung, der ausführlichen Schilderung der lokalen Praktiken und der Erlaubnis derselben durch die Regierung unter sorgfältig definierten Bedingungen. Doch die Tolerierung der andersartigen Praktiken bedeutete natürlich noch nicht ihre Respektierung. Die jeweiligen Völkerschaften, die eine Anerkennung ihrer Traditionen und Praktiken erbaten, wurden mit einem niedrigeren sozialen Status bedacht als jene, welche die orthodoxen Hindugesetze akzeptierten, und wurden so in vielerlei Hinsicht diskriminiert. Von einer rechtlichen Gleichstellung aller Nepali konnte folglich überhaupt keine Rede sein.

Bereits Prithvinarayan Shah hatte einen einheitlichen nepalischen Gesetzeskodex als wichtig für die Einheit des Landes angesehen. Da der rechtliche Dialog jener Jahre nach dem britisch-gorkhalischen Krieg die Voraussetzung für den ersten Kodex von 1854 war, muß er auch als ein Schritt zur Einheit des Landes angesehen werden.

Die schriftliche Fixierung der staatlichen Gesetze im ersten nepalischen Gesetzeskodex, dem muluki ain vom 6. Januar 1854, welcher bis in die heutige Zeit, von diversen Änderungen abgesehen, als eine Art Bürgerliches Gesetzbuch für Nepal fungiert, stellte ein Novum in der nepalischen Rechtsgeschichte dar, da erstmals die unterschiedlichen Anwendungskriterien des Hindurechts in der Gesellschaft verbindlich niedergelegt wurden.

Der muluki ain von 1854 befaßte sich sehr ausführlich mit dem Kastenwesen. Etwa ein Drittel des Gesetzestextes betraf Speise- und Heiratsvorschriften sowie sexuelle Beziehungen. Der muluki ain sah dabei eine Aufteilung der nepalischen Gesellschaft in eine besondere, von der klassisch-indischen etwas abweichende Form des hinduistischen Kastenwesens vor, in welches auch die in Nepal so zahlreichen nicht-hinduistischen Völkerschaften integriert wurden. Die Eingruppierung dieser ethnischen Gruppen erfolgte in Abhängigkeit vom Grad der Übernahme hinduistischer Anschauungen und Praktiken der jeweiligen Bevölkerungsgruppe, d. h. mit anderen Worten vom Umfang der Anpassung an die hinduistische Lebensweise und die damit verbundene Aufwertung im hinduistischen Kastensystem und somit dem erreichten Grad der Sanskritisierung. Immer aber wurden die ethnischen Gruppen unter den hohen Hindukasten der Bahun, Thakuri und Chetri angesiedelt und rechtlich anders als diese privilegierten Gruppen behandelt.

Es bleibt hervorzuheben, daß dies die Gesellschaftsordnung der staatstragenden hohen Hindukasten ist; sie wird von den ethnischen Gruppen insbesondere in ihren traditionellen Siedlungsgebieten hinsichtlich des zwischenmenschlichen Umgangs in dieser Form nicht geteilt, findet aber dennoch bis heute ihre bindende Verankerung in den Gesetzen und der Politik des Landes. Insgesamt ist festzuhalten, daß das im muluki ain verankerte nepalische Kastenwesen sich von Anfang an durch eine deutliche Bevorteilung der höheren Kasten und eine starke Benachteiligung der unteren Kasten und damit auch der zahlreichen ethnischen Gruppen Nepals auszeichnete. Die rechtliche Verankerung der hinduistischen Gesellschaftsauffassung im muluki ain von 1854 muß daher als eine der Hauptursachen für die heutige Ungleichheit der unterschiedlichen nepalischen Bevölkerungsgruppen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angesehen werden.

Eine grundlegende Überarbeitung dieses für die ethnischen Gruppen Nepals so diskriminierenden Gesetzes erfolgte erst im Jahre 1963, also mehr als ein Jahrzehnt nach der Beseitigung der Rana-Oligarchie, deren geistiges Kind der muluki ain von 1854 ja war. Zu jenem Zeitpunkt der Überarbeitung des muluki ain war die Idee des Hindustaates jedoch bereits zur Grundlage der neuen Panchayat-Verfassung von 1962 gemacht worden, d. h. die Diskriminierung der zahlreichen nicht-hinduistischen oder im Laufe der Zeit nur oberflächlich hinduisierten ethnischen Gruppen Nepals war nun sogar auf Verfassungsebene verankert worden. Entsprechend war die Integrationspolitik der Panchayat-Regierungen ausgerichtet, die sich durch eine Negierung der ethnischen Kulturen und eine Propagierung des vereinheitlichenden Nepalitums auszeichnete. Ein äußeres Symbol mag die Sprachenpolitik der Panchayat-Zeit sein. Während die Zahl der ethnischen Sprachen und insbesondere auch die Anzahl ihrer jeweiligen Muttersprachler in den veröffentlichten Ergebnissen der zehnjährigen Volkszählungen ständig zurückging, wurde das Nepali als die Muttersprache der herrschenden Schicht des Landes einseitig aufgewertet. Bezeichnend für die Fälschung der Statistiken in der Panchayat-Zeit ist die Tatsache, daß im Zensus von 1991, dem ersten Zensus nach der Demokratiebewegung, die Anzahl der Nepali als Muttersprache sprechenden Menschen gegenüber 1981 um 5,2% zurückging.

Große Hoffnung setzten die ethnischen Gruppen auf die neue Verfassung, die 1990 nach der Abschaffung des Panchayat-Systems von den Vertretern der wiederzugelassenen politischen Parteien ausgearbeitet wurde. Artikel 4 Abs. 1 der neuen Verfassung vom November 1990 definiert das "Königreich Nepal" wie folgt: "Nepal ist ein multiethnisches, vielsprachliches, demokratisches, unabhängiges, unteilbares, souveränes, hinduistisches und konstitutionell-monarchisches Königreich." Auffallend ist die Tatsache, daß die Definition als hinduistisches Königreich, welche erst mit der Panchayat-Verfassung von 1962 erstmals eingeführt worden war, weiterhin beibehalten wird, obgleich in der Phase der Ausarbeitung der neuen Verfassung gerade dieser Passus heiß diskutiert worden war. Es waren nicht nur Vertreter der führenden Parteien und der linksextremen Gruppen, die sich damals eindeutig gegen den Hindustaat ausgesprochen hatten, sondern es waren vor allem auch jene Gruppen, die sich im Hindustaat Nepal immer wieder benachteiligt gefühlt hatten, die jetzt in aller Öffentlichkeit lautstark die Einführung eines säkularen Staates forderten, so z.B. die zahlreichen ethnischen Gruppen, die Frauen, die von den hohen Hindukasten zu "Unberührbaren" erklärten Menschen.

Wenn wir noch einmal von der Zahl der Nepali als Muttersprache sprechenden Menschen ausgehen (Zensusergebnis 1991 = 53,2%) und dabei berücksichtigen, daß einerseits auch die ebenfalls diskriminierten sogenannten "Unberührbaren" das Nepali zur Muttersprache haben, andererseits aber aufgrund der langjährigen Regierungspolitik viele Angehörige ethnischer Gruppen überwiegend Nepali sprechen oder dieses als Muttersprache angeben, um überhaupt eine Chance im Staate zu haben, so wird klar, daß die in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Bildungswesen und Sicherheitskräften so dominierenden hohen Hindukasten nicht einmal 30% der nepalischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Man muß sich daher fragen, worin die Repräsentanten dieser Minderheit als Schöpfer der Verfassung von 1990 die Berechtigung, ja nach eigenen Aussagen sogar die zwingende Notwendigkeit gesehen haben, das nun als demokratisch erklärte Nepal weiterhin als Hindustaat zu definieren, wenn nicht zur Wahrung ihrer eigenen Interessen.

Trotz dieses großen Mankos bietet die neue nepalische Verfassung den ethnischen Gruppen jedoch auch Ansatzpunkte zu einer Verbesserung ihrer Stellung. Konnte man sich seitens der Verfassungskommission auch nicht zur Abkehr vom Hindustaat durchringen, so wurde doch das Bekenntnis in die Verfassung aufgenommen, daß Nepal ein multiethnischer und multilingualer Staat ist. In den politischen Richtlinien der neuen Verfassung wird die nepalische Regierung zum besonderen Schutz und zur Förderung der zahlreichen nepalischen Kulturen und Sprachen aufgefordert. Diese Vorschriften bedeuten einen deutlichen Bruch zur Theorie des kulturellen Einheitsstaates, der noch zur Panchayat-Zeit angestrebt worden war. Es wurde damit ein Freiraum für eine größere politische Bewußtseinsbildung der verschiedenen ethnischen Gruppen geschaffen. Bereits in den achtziger Jahren war es zur Bildung einiger ethnisch begründeter Organisationen gekommen (nur ganz wenige ethnische Organisationen wurden bereits vor dem Jahr 1979 gegründet), doch nach der Volksbewegung vom Frühjahr 1990 schossen diese wie Pilze aus dem Boden.

Es geht eine Bewegung durch Nepal, die getragen ist von einem stetig wachsenden Selbstbewußtsein der diversen ethnischen Gruppen. Man besinnt sich wieder auf die eigenen kulturellen Werte, auch wenn diese von den heutigen Eliten zum Teil anders interpretiert werden. Auffallend ist die zunehmende Politisierung dieser Organisationen, obgleich ihre Führer immer wieder betonen, man vertrete lediglich kulturelle Anliegen der jeweiligen Völkerschaften. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß sich die ethnischen Gruppen als Nationen bezeichnen. Einige Organisationen gehen sogar schon so weit, daß sie eine mehr oder weniger starke territoriale Unabhängigkeit vom nepalischen Staat begehren, meist eingebettet in die Forderung der Schaffung einer nepalischen Staatenunion. Noch werden diese Forderungen wenig militant vorgetragen, doch wird die Artikulation aggressiver.

Es stehen heute in Nepal drei unterschiedliche Formen der nationalen Integration zur Diskussion:

  • Integration in das bestehende gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische System der herrschenden Schicht des Landes: Dies ist jene oben beschriebene Form der Integration, welche von den Machthabern des modernen nepalischen Staates seit der militärischen Einigung vor gut 200 Jahren angestrebt wird. Es wird von den ethnischen Gruppen eine weitestgehende Übernahme hinduistischer Werte, Normen und Denkweisen erwartet. Die Schlagworte sind Sanskritisierung und Nepalisierung. Eine Übernahme ethnischer Werte und Vorstellungen durch die herrschenden Hindukasten im Sinne einer beiderseitigen Integration in den erklärten multiethnischen Staat wird nicht in Erwägung gezogen. Es ist verständlich, daß diese seit 200 Jahren praktizierte Form der Integration der ethnischen Gruppen von letzteren abgelehnt wird.
  • Integration durch Veränderung des bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems unter Ausnutzung der geltenden politischen und legalen Möglichkeiten: Es ist dies die Form der Integration, welche von den gemäßigten ethnischen Organisationen zumindest als eine erste Stufe angestrebt wird. Die neue Verfassung bietet durchaus eine Reihe von Möglichkeiten, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der ethnischen Gruppen zu verbessern. Hierzu gehört insbesondere die in den Richtlinien der Staatspolitik festgelegte Förderung der ethnischen Sprachen und Kulturen. Ich habe bei meinen Gesprächen mit zahlreichen Vertretern ethnischer Organisationen und Parlamentsabgeordneten aus den ethnischen Reihen immer wieder feststellen können, daß ihnen gerade die Förderung und der Erhalt der ethnischen Sprachen - die Sprache ist ja einer der wichtigsten Grundpfeiler einer jeden Kultur - besonders am Herzen liegt. Die Pflege, Wiederverbreitung und Standardisierung der jeweiligen ethnischen Sprache ist daher heute eine der Hauptaufgaben, denen sich die ethnischen Organisationen widmen. Eine Unterstützung durch den Staat erhalten sie dabei trotz entsprechender konstitutioneller Reglementierung nicht. Die Führer der ethnischen Organisationen bedauern, daß es auch vier Jahre nach der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung von 1990 quasi noch keine Grundschulen gibt, an denen das von der Verfassung garantierte Recht auf Unterricht in der Muttersprache verwirklicht wurde.
  • Integration durch Veränderung des bestehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und gesetzlichen Systems: Hierzu gehören Forderungen nach einer Änderung von Gesellschaftsordnung, Verfassung und Staatsform. Selbst sehr gemäßigte ethnische Führer halten derartige Veränderungen für unausweichlich, wenn die Situation ihrer ethnischen Gruppen tatsächlich verbessert werden soll. Alle von mir befragten Personen nannten einheitlich den Begriff des Hindustaates in der Verfassung als Haupthemmnis für die Verbesserung der Stellung der ethnischen Gruppen. Nur in einem säkularen Staat könnten die zahlreichen Bevölkerungsgruppen Nepals friedlich und gleichberechtigt miteinander leben.
    Als weitere notwendige Veränderung der Verfassung wird die Gleichbehandlung der Sprachen genannt. Alle ethnischen Organisationen sehen in der Erklärung des Nepali zur Nationalsprache Nepals und damit zum einzig anerkannten Medium für Unterricht, Information, Verwaltung und Justizwesen eine große Gefahr für den Weiterbestand und Erhalt der ethnischen Kulturen Nepals sowie eine Diskriminierung jener selbst nach offiziellen Statistiken rund 50% der nepalischen Bevölkerung, deren Muttersprache nicht das Nepali ist, für die Nepali eine Fremdsprache ist. Die ethnischen Organisationen stellen die Nutzung des Nepali als lingua franca nicht in Frage, sie fordern jedoch die Beendigung der Sonderbehandlung und einseitigen Förderung des Nepali und des Sanskrit und eine Gleichbehandlung und Förderung aller nepalischen Muttersprachen.
    Schließlich fordern die ethnischen Gruppen eine Umfunktionierung des nepalischen Oberhauses und größere Machtbefugnisse für die lokale Verwaltungsebene. Das heutige Oberhaus des nepalischen Parlaments ist in ihren Augen eine bloße Verdoppelung des Unterhauses. Der Anteil der Parteienvertreter am Oberhaus richtet sich nach der Sitzverteilung im Unterhaus. Die ethnischen Gruppen fordern, das Oberhaus stattdessen zu einem Haus der Nationalitäten umzuformen, in welchem alle nepalischen Bevölkerungsgruppen, die großen wie die ganz kleinen, vertreten sind und ihre Meinung und ihre Anliegen zum Ausdruck bringen können.
    Chancen für rasche derartige konstitutionelle Veränderungen sehen die ethnischen Vertreter jedoch nicht. Solche Veränderungen wären nur über die politischen Parteien möglich, und diese sind heute ein Spiegelbild der staatlichen Gesellschaftsordnung, d.h. auch sie werden dominiert von Bahun, Chetri und hochkastigen Newar. Die Parlamentarier aus den ethnischen Reihen betonen, sie hätten nur in den Hauptsiedlungsgebieten ihrer Bevölkerungsgruppen eine Chance innerhalb ihrer politischen Parteien, nicht jedoch auf nationaler Ebene, und dies gilt für alle großen Parteien in gleicher Weise.

In dieser Situation sind die ethnischen Organisationen heute noch weitgehend auf sich alleine gestellt. Wichtig für eine raschere Verwirklichung ihrer Ziele wäre eine größere Kooperation untereinander. Daher schlossen sich im Juli 1990 neunzehn derartiger nationaler ethnischer Vereinigungen zum Nepal Janajati Mahasangh zusammen. Der von anderen Organisationen etwas umstrittene Begriff janajati wird von den Mitgliedsorganisationen des Mahasangh heute mit Nationalitäten übersetzt. Man setzt sich ein für eine Rückbesinnung auf die eigenen angestammten Kulturen und für eine Zurückweisung des jahrhundertelangen Einflusses der Hinduisierung. Der Mahasangh steht allen ethnischen Gruppen und Organisationen offen, nicht jedoch hinduistischen Kastengruppen einschließlich der sogenannten Unberührbaren (obgleich diese ja in ähnlicher Weise diskriminiert werden wie die ethnischen Gruppen). Ausgeschlossen bleiben auch christliche oder muslimische Organisationen. Es ist das erklärte Ziel des Nepal Janajati Mahasangh, "die unterschiedlichen Kulturen des Landes zu fördern, da Unterschiedlichkeit und nicht Einheitlichkeit eine weltweite Tatsache ist, und auf diese Weise einen einzigen souveränen Nationenstaat in Nepal zu schaffen."

Neben diesen Organisationen, die sich in sehr gemäßigter Form für die Rechte ihrer ethnischen Gruppen einsetzen, gibt es aber auch eine Reihe anderer Organisationen, die wesentlich militantere Töne anschlagen. Organisationen wie Limbuwan Mukti Morcha, Khambuwan Mukti Morcha (eine Rai-Organisation) und Tamang Saling Mukti Morcha verwenden bereits in ihren Namen das Wort mukti (= Befreiung) und deuten damit ihre Bereitschaft zu aggressiveren Methoden an. Ihr erklärtes Ziel ist die Schaffung autonomer Regionen in den traditionellen Hauptsiedlungsgebieten ihrer ethnischen Gruppen.

In die gleiche Richtung gehen die Bestrebungen ethnienübergreifender Organisationen wie der Mongol National Organization von Gopal Gurung. Dieser sieht seine Organisation als politische Partei, der jedoch im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1991 wegen angeblicher kommunalistischer Ausrichtung die Anerkennung verweigert wurde. Eine diesbezügliche Verfassungsklage ist seit drei Jahren beim Obersten Gerichtshof anhängig und über gelegentliche Anhörungen nicht hinausgekommen. Gopal Gurung steht dem Nepal Janajati Mahasangh sehr kritisch gegenüber. Er stört sich am Begriff janajati, den er mit indigenous people übersetzt und nur auf einige animistische Restvölkerschaften Nepals angewandt wissen will. Die Führer der ethnischen Organisationen des Mahasangh bezeichnet er allesamt als Linksextremisten, welche der NCP-Masal naheständen, ein Vorwurf, dem ich jedoch deutlich widersprechen muß. Inhaltlich kommen sich die Aussagen Gopal Gurungs und der Mahasangh-Führer allerdings sehr nahe, wenn man einmal von dem Ziel der Schaffung autonomer Regionen absieht.

Welches Fazit läßt sich aus dem Gesagten ziehen? Die Volksbewegung von 1990 und die durch sie bewirkten verfassungsrechtlichen Änderungen haben dem nepalischen Volk größere Freiheiten und Rechte gebracht. Es wurde damit die Grundlage für eine menschenwürdige Zukunft geschaffen. Von einer tatsächlichen Demokratie kann in Nepal jedoch noch nicht gesprochen werden. Demokratie bedeutet die Herrschaft des gesamten Volkes, in Nepal aber handelt es sich dabei nach wie vor nur um eine Minderheit hochkastiger Hindus und Newar, wenn auch der Kreis der Beteiligten verändert und erweitert wurde. Die Mehrheit des nepalischen Volkes aber gehört nicht den hohen Hindukasten an, die einzig und allein von einem Hindustaat profitieren. Wenn die in der Verfassung garantierten Menschenrechte tatsächlich für alle Bevölkerungsgruppen und -schichten in gleicher Weise verwirklicht werden sollen, dann wird das Land nicht umhinkommen, den Begriff Hindustaat aus der Verfassung zu streichen. Ein Wandel zu einem säkularen Staat ist jedoch nur durch massiven Druck der benachteiligten Bevölkerungsgruppen möglich. Presse- und Meinungsfreiheit sind heute gegeben. Die Forderungen gerade der ethnischen Interessenorganisationen werden zunehmend lauter. Eine große Gefahr für den Staat liegt darin, daß einige von deren Führern ihre durchaus berechtigten Forderungen mit der Idee autonomer Regionen verbinden möchten. Nepal muß seine Einheit in der Vielheit wahren. Sowohl die machthabende Elite als auch die ethnischen Gruppen müssen sich zum Vielvölkerstaat bekennen. Die Aussage des Artikels 4 der Verfassung, Nepal sei ein multiethnisches und hinduistisches Königreich ist ein Widerspruch in sich; die zahlreichen ethnischen Gruppen Nepals sind keine Hindus, und ihre Sprache ist nicht das Nepali. Erst wenn die Verfassung und die untergeordneten Gesetze wirklich allen Menschen des Landes gleiche Rechte und Chancen zubilligen, kann sich der Staat um eine Verwirklichung dieser Rechte in der Gesellschaft bemühen., und erst in der Folge davon ist auch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der ethnischen Gruppen zu erreichen.


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